Faszination Fingerstyle: Eine komplette Band auf die Akustikgitarre übertragen

Von Spieltechnik über Komposition eigener Stücke – Musiker und Festivalleiter im Gespräch

Warte, was? Waren da gerade beide Hände gleichzeitig am Griffbrett? Hat da wirklich eine Hand lässig Bass und Percussion gleichzeitig erzeugt, während die andere die Gitarre und Melodie übernimmt? Es sind echte Masterminds, die mit nur einer Akustikgitarre eine ganze Band erklingen und vielschichtige Songs entstehen lassen.

So funktioniert’s:

Dass Fingerstyle-Gitarristen spielend leicht auch bei hohem Tempo und komplexen Songs ihr Instrument beherrschen, fasziniert Falk Mörsner. Auch, dass sich der Sound durch Tonabnehmer problemlos auf große Bühnen bringen lässt. Er hat das Bremer Modern Acoustic Guitar Festival ins Leben gerufen, um als Botschafter noch mehr Menschen für diese Spieltechnik zu begeistern. Wir haben ihn und die beiden teilnehmenden Musiker Sophie Chassée (Ali Neumann, AnnenMayKantereit) und Sönke Meinen zum Interview getroffen. Sie erzählen uns, wie man sich selbst an der Gitarre überraschen kann und warum Fingerstyle kein Multitasking ist. Entdecke jetzt, wie Musiker die Technik neu interpretieren und wie sehr sie Gefallen an der Wiederentdeckung dieser Spielart finden.

Bassistin bei AnnenMayKanterei, aus Mönchengladbach, 4 Solo-Alben

Ostfriese, 2 Solo- und 2 Kollabo-Alben, weltweite Auftritte

Initiator des „Bremer Modern Acoustic Guitar Festivals“, selbst Gitarrist

Moin ihr drei. Ergänzt zum Warmwerden doch bitte folgenden Satz: Eine Gitarre ist für mich nicht bloß ein Instrument, sondern …

Sophie: … bedeutet für mich Vertrautheit: Viele meiner Gitarren haben auch Namen. Eine Gitarre fühlt sich für mich so an, als hätte ich meine beste Freundin dabei.

Sönke: … eine Spielwiese nach dem Motto „Ich will Gitarre spielen und dann gucke ich mal, was auf dem Instrument alles geht“. Falk: … ein Symbol des (positiven) Wandels. Früher urteilten Musiklehrer, wie man gut oder schlecht spielt. Heute herrscht zum Glück viel mehr Offenheit und Toleranz gegenüber neuen Spielarten. Was macht für dich die Faszination Fingerstyle aus?

Falk: … ein Symbol des (positiven) Wandels. Früher urteilten Musiklehrer, wie man gut oder schlecht spielt. Heute herrscht zum Glück viel mehr Offenheit und Toleranz gegenüber neuen Spielarten.

Was macht für dich die Faszination Fingerstyle aus?

Sophie: Das sind für mich drei Dinge. Erstens: Es ist der Klang der akustischen Gitarre, der mich einfach total glücklich macht. Zweitens: Individualität. Denn jeder spielt und klingt anders. Und drittens: Die Gitarre immer wieder neu zu entdecken.

Es sind gerade diese Momente, wenn du so coole Stellen gefunden hast und dir denkst: „Boah, das klingt jetzt irgendwie voll geil.“

Und dann zusätzlich dieses Überraschende, was man alles mit der Gitarre machen kann.


Falk: Er kitzelt die Menschen noch einmal ganz anders. Ich sehe eine tolle Entwicklung, die viele animiert, so Gitarre spielen zu wollen. Für mich sind die Musiker, die den Fingerstyle beherrschen, kleine Genies, vor denen ich großen Respekt habe.

Sönke: Ich bin jedes Mal überrascht, welche Wucht die Gitarre haben kann, wenn da plötzlich Musik rauskommt, die man nicht erwartet. Und dass dieses eine Instrument auch schon eine ganze Band sein kann.

Mich fasziniert, dass Basslinien, Akkorde, Melodien und perkussive Elemente gleichzeitig ins Spiel eingebunden werden.

Wie bist du zum Fingerstyle gekommen?

 
Sönke:

Mein Schlüsselerlebnis war, den Fingerstyle auf Konzerten zu sehen. Da war mir sofort klar, das will ich auch!

 
Sophie:

Als ich elf war, hat mir ein Bluesmusiker ein Video von Andy Mc Kees „Drifting“ gezeigt. Er sagte, ich könne gleich vergessen, jemals so zu spielen. Da war mein Ehrgeiz geweckt. Fun Fact: Inzwischen sind Andy McKee und ich befreundet. Und ist es nicht verrückt, dass es quasi darauf fußt, dass du im Endeffekt einfach auf der Gitarre rumklopfst – so, wie es sich gut anfühlt. 

 
Falk:

Ich habe Musik (Gitarre) auf Lehramt studiert. In meiner Freizeit habe ich Stücke auf der Gitarre arrangiert, mich aber immer nur in meinem eigenen Sumpf bewegt. Als ich mich wieder intensiver damit beschäftigt habe, bin ich auf den Modern Fingerstyle gestoßen. Gerade die Power des Spiels lässt sich mittlerweile durch Tonabnehmer wunderbar auf der Bühne entfalten und das hat mich dann vollends überzeugt. Und auch, dass er klassische Gitarristen aus ihrer Komfortzone treibt, etwas Neues auszuprobieren.

Sönke in Aktion:

Worauf bist du stolz?

Sönke: Als ich angefangen habe, die Welt der Akustikgitarre zu erkunden, habe ich zunächst sehr viele Stücke nachgespielt. Nach und nach habe ich dabei entdeckt, welche Elemente mich an dieser Musik so faszinieren – und habe diese dann für die ersten eigenen Stücke verwendet. Dank guter Lehrer und jeder Menge Erfahrung konnte ich danach langsam meine persönliche musikalische Sprache entwickeln.

Zu wissen, wer ich musikalisch bin, und Visionen zu haben, wo es noch hingehen könnte, ist ein sehr gutes Gefühl.

Sophie: Oft spielst du so vor dich hin, hast beide Hände am Griffbrett – aber für Leute, die das noch nie so gesehen haben, ist das echt was Neues. Ich habe mir alles selbst beigebracht und darf inzwischen als Dozentin oder in Workshops mein Wissen weitergeben. Wenn Teilnehmende sagen: „Krass, das kann ich jetzt irgendwie gar nicht spielen. Oder hä, wie machst du das? Da wäre ich gar nicht drauf gekommen …“

… dann stelle ich fest: Anscheinend ist es doch nicht so einfach, was ich da mache, und das ist eine schöne Bestätigung meiner Arbeit.

Falk: Hier im Norden gibt es vor allem in Hamburg und Oldenburg Fingerstyle-Workshops und -Konzerte. Das ist gut, wenn sich Musiker inspirieren lassen und weiterentwickeln wollen. Allerdings gab es keine in der direkten Umgebung meines Wohnortes Bremen. Deshalb habe ich das „Modern Acoustic Guitar Festival“ initiiert, das 2023 bereits zum zweiten Mal stattfand. Es wäre mir eine Freude, wenn die Veranstaltung sich weiter etabliert und viele Interessierte anzieht.

Seit 2022 findet das Festival mit dem Ziel statt, die Modern-Acoustic-Guitar-Szene besser zu vernetzen. Interessierte können die Musik dort live erleben und selbst erlernen. Dazu spielen die Gast-Musiker Konzerte und vermitteln in Workshops ihr Wissen. Sie geben Tipps für Auftritte sowie Input, Anregungen und praktische Tipps fürs eigene Spiel.

Entdeckst du immer wieder neue Stellen am Korpus, auf denen du spielen kannst?

 
Falk:

Was ich toll finde: Bei der klassischen Gitarre hat man sich immer sehr darum bemüht, möglichst keine Nebengeräusche zu erzeugen. Weil ein Nebengeräusch die Reinheit des Tons ruiniert. Beim Fingerstyle hingegen ist man bewusst auf der Suche nach allen Geräuschen, die man irgendwie auf der Gitarre finden kann. Denn durch diese Geräusche lassen sich zusätzliche rhythmische Ebenen einführen.

Sönke: Nutzt den Entdeckergeist, den euch die Gitarre bietet: Seht euch diese einfache Holzbox mit sechs Saiten an und überlegt: Was kann ich hiermit anstellen? Wo ist da überall Musik drin? Das ist für mich so eine absolute Motivation, weshalb mir das eben auch nie langweilig wird.

Sophie: Auf jeden Fall, weil der Klang überall anders auf der Gitarre ist. Da muss man seine Sweet Spots finden und schauen, ob sie mit der eigenen Klangvorstellung matchen. Vor allem bei der Percussion (also den Drums mit Snare, Bassdrum), wenn es darum geht:

Wie soll eigentlich das Schlagzeug klingen? Wie soll der Bass klingen? Aber das macht es einfach super-interessant, dass man selber die Gitarre so entdeckt und das für sich herausfindet.

Was inspiriert dich?

Sönke: Alles Mögliche – wie mein Kühlschrank, der manchmal komische Geräusche macht. Das kann schon eine Idee für ein Stück sein und das Komponieren ist dann eigentlich das Handwerkliche, was man mit dieser Idee macht. Da muss man dann auch nicht zwingend die ganze Zeit inspiriert sein. Also, es gibt eigentlich keine schlechten Ideen für mich. Es gibt nur schlechte Kompositionen.
 

Wie komponierst du Musik auf der Gitarre?

Sophie: Ich gehe ganz oft davon aus, wie sich die Aufnahme später auf der CD anhören soll. Also, ich habe gleich das ganze Band-Arrangement im Kopf, das ich auf die Gitarre übertragen will. Zu Drums und Bass kommen dann noch die Melodien und Harmonien.

 
Sönke:

Wenn so viele Schichten gleichzeitig passieren, dann ist das keine Musik, wo sehr viel improvisiert wird. Sondern vieles ist festgelegt, sodass am besten die Illusion entsteht, man hört am Ende diese ganzen „Bandmitglieder“. Also, ob jetzt Stimmbänder oder Gitarrensaiten – klar, eine Stimme ist natürlich das persönlichste Instrument, was es gibt. Aber ich kann mich durch bestimmte Techniken dem schon auf der Gitarre annähern.

Wie baust du einen Song auf?

Sophie: Für mich als Bassistin ist der Bass eine ganz wichtige Grundlage, weil er für den Groove sorgt. Denn beim Groove geht der Körper als Erstes intuitiv mit und die Menschen reagieren darauf. Danach kommen die Drums. Dann hast du schon ein gutes Fundament. Anschließend überlege ich mir, wie ich die Melodien und Harmonien spiele.


Noten gut und schön, aber wie notierst du dir das Fingerspiel?

Sophie (lacht): Gar nicht. Beim Entstehen mache ich immer Videos, quasi als Notizen, damit ich nichts vergesse.

 
Sönke:

Für mich ist die Spielweise kein Multitasking: Sobald ich auf der Bühne darüber nachdenke, was ich tue, bin ich raus. Ich habe keine Chance, das alles auf dem Schirm zu haben.
Bei aller modernen Spieltechnik komponiere ich – auch im Vergleich zu vielen anderen Fingerstylern – meist sehr traditionell, indem ich tatsächlich Noten schreibe. Für die perkussiven Sounds habe ich dabei meine eigene Notations-Art entwickelt. Beim Komponieren hilft es mir auch, das Instrument wegzulegen und mir erst zu überlegen, wie das Ganze auf der Gitarre im Detail umsetzbar ist, wenn das Stück fertig ist. So setzt man sich beim Komponieren keine Grenzen, muss aber bei der spieltechnischen Umsetzung womöglich umso kreativer werden.

Weißt du denn genau, auf welche Hände du welche Instrumente aufteilst oder ist das immer unterschiedlich?

Sophie: Es ist immer unterschiedlich. Gerade die Percussion teile ich auf jeden Fall immer auf. Das ist ergonomisch manchmal gar nicht möglich, das nur mit einer Hand zu spielen.


So sieht Sophies Spieltechnik aus:

Was kannst du Interessierten raten, die sich dem Fingerstyle nähern wollen? Wie steigt man am besten ein?

 
Falk:

Macht euch bewusst: Die Hindernisse liegen eher im Kopf und nicht darin, dass man es nicht mit den Fingern hinkriegen würde.
Einige stimmen ihre Gitarren tiefer, weil sie dann nicht so kompliziert greifen müssen. Das könnte am Anfang hilfreich sein, bis man sicherer ist.

 
Sophie:

Der Fingerstyle ist total dankbar. Am Anfang kannst du viel ausprobieren und bekommst ein Gefühl dafür, wie viel Kraft du aufwenden musst.
Und du entdeckst, wie du dein eigenes Ding draus machst. Ganz wichtig: Inspirationen holen, zum Beispiel bei YouTube. Und die Ziele nicht zu hoch stecken.

 
Sönke:

Ich würde tatsächlich Songs von Gitarristen lernen, die man cool findet. Also erst mal wirklich viel verschiedenes Material lernen. Es gibt viele Stücke, die gar nicht so schwer sind. Oft sind da schon die meisten Techniken enthalten, die man braucht. Schaut einfach, was euch gefällt und was euch motiviert. Dann passiert es von ganz alleine, dass ihr weiterforscht, vielleicht eure eigenen Ideen entwickelt und selber die ersten Stücke schreibt.

Vielen Dank für die spannenden Einblicke zur Modern Acoustic Guitar und dem Fingerstyle!

Weitere Inspirationen

Headergraphic: Adobe Stock | Roman
Bilder: Christian Olschina | Michelle Jekel | Evelin Hartmann

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