Behind The Hirsch Effekt

Nils von The Hirsch Effekt über Musikvideos, Konzeptalben und Freitage für die Zukunft


Die Prog-Rocker The Hirsch Effekt veröffentlichen 2020 mit „Kollaps“ ihr fünftes Album. Dazu drehen sie drei Musikvideos. Wir haben Nils Wittrock, Gitarrist, Sänger und Songwriter von The Hirsch Effekt, zwischen Videoproduktionen und Proberaum abgefangen und zum Album-Konzept und den Videos ausgefragt. Hier erfahrt ihr, was Greta mit Kollaps zu tun hat und wie die Hirsche zu Playbacks und Samples bei Konzerten stehen.


Hey Nils! Die erste Frage, die ich mir gestellt habe, war: Musikvideos? Und dann gleich drei? Ist die Hype-Zeit der Musikvideos nicht vorbei?

Ich dachte eigentlich, man veröffentlicht heute überhaupt nichts mehr, ohne dass man sich dazu auch etwas angucken kann. Es gibt ja Künstler, die machen nur noch einzelne Songs mit Videos, statt ganze Alben zu veröffentlichen. Die haben sozusagen nur noch Singles. Da gehen wir den Mittelweg: Wir werden vier Singles aus „Kollaps“ auskoppeln. Drei vor dem Release und eine danach. Übrigens sind es streng genommen sogar vier Videos. Drei klassische und ein Packshot-Video.

 

Es war also von Anfang an klar, dass ihr Musikvideos macht?

Ja. Es war zwar auch intern mal ein Reizthema, aber dass es irgendwelche bewegten Bilder zu unserer Musik gibt, war von Anfang an klar. Auch schon zu unserem letzten Album haben wir begleitend zwei klassische Musikvideos und ein Mood-Video mit älteren Live-Aufnahmen gemacht.

 

Bezahlt ihr die Videos aus eigener Tasche oder hilft euer Label euch?

Nein, unser Label stellt uns ein festes Budget zur Verfügung, das wir ausschließlich für Videoclips nutzen dürfen. Und IMG STAGELINE finanziert durch ein Endorsement auch einen erheblichen Teil der Videos. Gerade unser Label sagt uns: Leute, ihr braucht Musikvideos, unbedingt. Und dann vertrauen wir denen. Die haben da mehr Ahnung von „Marketing“ als wir.

 

Okay, aber würdet ihr auch Videos zu eurer Musik drehen, wenn ihr kein Label oder Endorsement-Partner hättet, die dafür zahlen?

Das ist eine gute Frage. Die Argumente für Musikvideos sind aber gut und wir freuen uns über die Möglichkeit, diese umsetzen zu können. Mit Videos können Bands vor allem Youtube, Facebook und Instagram viel besser bespielen. Das war auch unser Gedanke. Wir drehen die Videos also nicht nur einfach so, weil unser Label das zahlt, sondern weil es auch gutes Musik-Marketing ist.

„Musikvideos erzeugen mehr Aufmerksamkeit und Reichweite als: ‘Bitteschön, hier ist der erste Song, da ist der Soundcloud- oder Spotify-Link, viel Spaß.’“

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

Kommt das Konzept für diese Musikvideos von euch? Also denkt ihr euch das inhaltlich und künstlerisch aus oder wie läuft das?

Unterschiedlich. Es gibt ein Performance-Video, ein Video mit einer echten Handlung und eines, wo wir einfach vor einem Greenscreen ein bisschen Quatsch machen. Das Budget haben wir auf diese drei Ideen aufgeteilt. Dann haben wir mit Leuten, die uns unterstützen, die Feinarbeit gemacht. Beim Performance-Video haben wir das mit zwei Filmemachern aus unserem Netzwerk gemeinsam erdacht. Für das Video vor dem Greenscreen nutzen wir einfach ein paar Requisiten, alles andere ist eher spontan. Bei diesen beiden Videos unterstützt uns vor allem Steffen Flügel, ein echter Video- und Medien-Profi. Das Story-Video hat der Regisseur selbst konzipiert. Das ist einer aus dem Off-The-Road-Team, vielleicht kennt das der eine oder andere Leser...

„Klar können wir uns eine Video-Idee ausdenken, aber die detaillierte Umsetzung? Da brauchen wir externes Know-how. Wir sind Musiker. Man kann nicht alles können.“

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

War es schon immer so, dass ihr da bewusst auch kreative Verantwortung abgegeben habt?

Nein, das war ein Lernprozess. Früher wollten wir bei den Videos mehr mitreden. Aber das war nicht immer gut. Ich glaube, bei einigen der älteren Hirsch-Effekt-Videos hatten wir zwar sehr gute Filmemacher, denen wir aber viel zu viel reingeredet haben. Das war für beide Seiten ein wenig doof. Wir waren mit dem selbst verschuldeten Endergebnis nicht immer 100 % zufrieden.

 

Wie lang braucht ihr in der Produktion für diese Videos?

Das Story-Video entsteht an zwei Wochenenden, an denen ich selbst auch gar nicht dauerhaft so präsent am Set bin. Das Green-Screen-Video und das Performance-Video schaffen wir jeweils an einem Tag.

IMG STAGELINE presents "NOJA":

Am neugierigsten sind wir natürlich auf das Story-Video. Kannst du verraten, worum es geht?

Ich kann da jetzt gerade noch gar nicht so viel zu sagen. Auch, weil ich noch gar nicht im Detail weiß, was geplant ist. Grundsätzlich ist der Hauptprotagonist ein kleiner Junge, der alleine in einer apokalyptischen Welt lebt. Diese apokalyptische Welt im Video steht in direkter Verbindung zum Song. Das ganze Album ist ja ein Konzeptalbum und das Video greift hier den Song ziemlich direkt auf.

IMG STAGELINE presents "BILEN":

Wenn du es schon selbst ansprichst: Es ist wieder ein Konzeptalbum, alle Songs hängen also mehr oder weniger eng zusammen. Worum geht es auf dem Album?

Das ganze Album bemüht sich, die Sicht der Fridays-For-Future-Bewegung (FFF) zu erzählen oder zumindest zu beschreiben. Das Konzept hangelt sich an Zitaten von Greta Thunberg entlang. Dementsprechend geht es um Weltuntergangsszenarien und Klimaerwärmung im weitesten Sinne.

 

Die FFF-Bewegung ist ja ein aktuelles Thema. Im August 2018 war das erste Mal wirklich mediale Aufmerksamkeit für die Bewegung da. Andererseits dauert es, ein Konzeptalbum zu machen. Wie lange arbeitet ihr denn schon am Album?

Ab Januar 2019 haben wir angefangen, an “Kollaps” zu schreiben. Im August 2019 waren wir fertig. Generell ist bei unseren Alben immer erst die Musik da, danach die Texte. Während die ersten Alben von The Hirsch Effekt noch sehr private Themen behandelt haben, besetzt schon das Album “Eskapist” von 2017 mit der Migration nach Europa ein gesamtgesellschaftliches Thema. Und “Kollaps” nun auch.

Wann und wieso habt ihr entscheiden, FFF als Thema aufzugreifen?

Ende März 2019 ist die bewusste Entscheidung gefallen. Ich weiß noch ziemlich genau, dass ich Anne Will geguckt habe und dieses Mädchen da saß. Ich hatte von Greta schon gehört, hatte mich aber nicht intensiv damit befasst. Aber Greta hat in der Sendung von Anne Will so einen starken Eindruck bei mir hinterlassen, dass ich mich danach unter die Demos der FFF-Bewegung gemischt habe. In Berlin, Aachen, Hamburg, Hannover. Ich habe mit vielen Leuten auf den Demos gesprochen. Und dann habe ich überlegt: Schreiben wir jetzt über FFF? Sind wir eine politische Band mit einer politischen Botschaft? Besser fand ich, mich in die Rolle dieser jungen Menschen hineinzuversetzen.

„Das Album ist weniger unsere eigene Perspektive, sondern eher beschreibend. Es ist mehr Doku als Meinung, das war zumindest die Absicht.“

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

Auch die Klimaskeptiker versuchen wir zu thematisieren, so neutral und deskriptiv wie möglich. Trotzdem wird jedem Hörer klar sein, wie wir zur FFF-Bewegung stehen.

 

Das wollte ich gerade sagen: Du sprichst von einer Perspektive und neutraler „Doku“, aber die Inhalte der FFF-Bewegung sind schon Teil deiner Identität, oder?

Vielleicht, aber darum geht es nicht vordergründig. Wir sind keine Klimaaktivisten, nicht wirklich. Greta und das Thema haben mich deswegen berührt, weil ich als junger Mensch voll dabei gewesen wäre. Anti-Materialismus und Kapitalismuskritik hätten mich als jüngerer Mensch voll mitgenommen. Gleichzeitig habe ich mich gefragt: Was passiert eigentlich, wenn ich so weiterlebe, wie ich lebe? Was, wenn mich meine Enkel fragen, warum wir uns im Angesicht des Klimawandels nicht angepasst haben? Der Müll, den ich produziere, das viele Reisen mit der Band. Der Strom, den ein Konzert verbrät. Die FFF-Bewegung ist eine Anklage an einen unbekümmerten Lebensstil, auch an mich.

 

Hast du mit jemandem aus der FFF-Bewegung für die Lyrics zusammengearbeitet?

Nein. Ich habe drüber nachgedacht, aber das hätte den beschreibenden Charakter und die nötige Distanz zunichtegemacht. Es wäre zu anbiedernd. Wir wollen nicht das Sprachrohr sein oder auf einer FFF-Kundgebung spielen. Wir schreiben über das, was passiert. Daraus soll dann jeder seine Meinung bilden, sich vielleicht hinterfragen, irgendwas ändern.

„Wir sagen auf ‘Kollaps’ nicht, was richtig ist. Wir unterstreichen durch musikalische Dokumentation, wie relevant die FFF-Bewegung ist. Aber wir sind keine Polit-Band wie Rage Against The Machine."

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

Zurück zum Album Kollaps: Was fandet ihr am anstrengendsten an der Produktion?

Weil wir selten alle an einem Ort sind, war das Songwriting teilweise zäh. Wir haben uns dann aber mal acht Tage in einem Ferienhaus auf dem Land eingeschlossen und haben da alles zusammengeführt. So was hilft, wenn alle Bandmitglieder in verschiedenen Städten wohnen. Die Songs entstehen meist über digitales Songwriting, erst später kommen wir zusammen und probieren sie aus. Erst mal ohne Vocals, nur als Vorbereitung auf die Recordings.

„Wir haben auch noch nicht für kommende Konzerte geprobt. Das machen wir erst, wenn das Album fertig ist. Dann überlegen wir, was wir live umsetzen wollen – oder können.“

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

Können? Ihr habt also Songs, die live gar nicht umsetzbar sind?

Ja, haben wir auch. Sogar als Single mit Video. Das ist dann mit sehr vielen Gitarrenstimmen oder mit Saiteninstrumenten, die wir auf der Bühne nicht vom Band abspielen wollen. Das ist immer eine Abwägung. Wir haben manchmal auf der Platte zum Beispiel Streicher, die wir auch live vom Band nutzen, weil da jeder weiß: Das ist vom Band, da oben auf der Bühne ist eindeutig kein Cellist.

„Eine zweite oder dritte Gitarrenspur als Playback beim Konzert? Nein. Das stört den Live-Charakter zu sehr, das irritiert.“

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

Wer spielt denn so etwas wie Streichinstrumente bei euch ein? Das ist ja nicht Teil der Kernband, oder?

Wir haben inzwischen ein großes Netzwerk an talentierten Kontakten und Freunden. In diesem Fall hat unser Soundingenieur die Geige eingespielt, unser Bassist Ilja das Cello.

 

Bei The Bland war es so, dass die Jungs mit dreimal so vielen Songs ins Studio gegangen sind, als am Ende auf der Platte gelandet sind. Ist das bei euch auch so?

Nein, im Gegenteil: Es gibt fast keine Hirsch-Effekt-Songs, die wir nicht aufnehmen. Wir wissen ja von Anfang an, in welcher Reihenfolge die Songs sind und was wir grob erzählen wollen. Es gibt auch keine Pausen zwischen den Songs, im Sinne von klassischen Intros oder Outros. Die Songs hängen so eng zusammen, dass es eben genau die Songs sind, die wir aufnehmen.

„Es gibt bei uns im Recording-Prozess keine Veränderungen mehr an den Songs. Wir nehmen vor der eigentlichen Studiozeit ein sehr präzises Demo auf. Das setzen wir dann im Studio professionell um.“

— Nils Wittrock, The Hirsch Effekt

Nils, vielen Dank für die Einblicke und viel Erfolg beim Release eurer neuen Platte!

Die Artists unserer IMG-STAGELINE-Familie liegen uns am Herzen – und sind sorgfältig ausgesucht. An The Hirsch Effekt fasziniert uns die Virtuosität durch einen Mix aus ungeraden Takten, Breakdowns und chaotisch durchgebretterten Gitarrenparts. Die Jungs klingen wie eine avantgardistische Mischung aus Animals as Leaders, The Dillinger Escape Plan, Heaven Shall Burn und The Fall of Troy. Der szenebekannte Blogger Matt Matheson schreibt gar: „The Hirsch Effekt opened my eyes to a new universe of compositional realities.“ – Passt!