Musik-Streaming: Fluch oder Segen für alle, die Musik veröffentlichen?

Musik veröffentlichen ist heute einfacher denn je – aber ist das auch gut für die Künstler? Eine Bestandsaufnahme.


Das Jahr 2003. Ein schlecht belüftetes Musikgeschäft, eine lange Reihe alter Holzkisten, etwa hüfthoch. Darin: hunderte CDs, erst nach Genre grob vorsortiert, dann alphabetisch. Eine CD kostet 14,99€, enthält ein Booklet von unbekannter Qualität, 12 Songs und – vielleicht – einen Hidden Track. Die Chance, dass eine gekaufte CD nicht den eigenen Geschmack trifft, ist groß. Denn die meisten Songs sind nirgendwo anders hörbar, nur auf diesen Tonträgern. Ein Blindkauf. Das Front-Artwork des Booklets, die Genre-Sortierung des Ladenbesitzers oder der Bandname, darauf muss der Käufer vertrauen.

Szenenwechsel, 2019: Ein Wohnzimmer. Am PC ein Stream: Ein altes Ashbury-Album, kostenlos. Am Rand des Bildschirms empfiehlt die Streaming-Plattform ähnliche Künstler. Die Basis ist ein Algorithmus, der Musikgeschmäcker analysiert. Die Streaming-Plattform schlägt Fleetwood Mac vor, das Cover-Artwork ist schrecklich, User hören trotzdem rein und lieben die Songs. Die Streaming-Plattform zeigt auch Tourdaten. Einen Monat später sind die Konzerte von Fleetwood Mac ausverkauft, einer Band, die ihren Zenit vielleicht schon überschritten hat.
Unser Musikkonsum hat sich verändert. Die Art, Musik zu veröffentlichen, hat sich verändert. Wie gehen Künstler damit um?

Tape-Trading war der erste Weg für Musiker, mit großer Reichweite Musik zu veröffentlichen

Tape-Trading war kein normaler „Tausch“ von Kassetten, sondern vielmehr das Überspielen von Musik auf eine leere Kassette. Eine Kopie. Das „Trading“ im Wort bedeutete, sich jeweils gegenseitig (Original-)Kassetten zu kopieren. Ich gebe dir meins, du mir deins, am Ende haben wir Musik „getauscht“ – nur, dass jeder sein eigenes Original noch hatte. Deswegen haben in den 80er-Jahren viele Bands ihre Songs selbst auf Kassetten gespielt und an Fans weitergegeben, kostenlos. Weil Fans die Kassette immer weiter „getauscht“ haben, ein Schneeball-System: Gebe ich mein Tape an drei Personen weiter, geben die es an drei andere. Das bedeutete im besten Fall günstige Reichweite für kleine Bands. Bands wie Metallica wären ohne Tape-Trading in den frühen 1980er-Jahren vermutlich niemals populär(er) geworden, aber auch Plattenfirmen kamen über diese Tapes an neue Künstler. Geld sah die Band für diese Tape-Tauscherei nicht – aber das war auch nicht der Plan.

These: Musik-Streaming hat viele Hörer motiviert, nicht mehr das Urheberrecht zu verletzen

Als die Kassetten langsam ausstarben und CDs – und dann mp3s – den Markt dominierten, gab es eine lange Phase der illegalen Raubkopien und des „Filesharings“. Wer Musik wollte, bekam Musik. Ohne zu bezahlen, nur mit einer kleinen Prise schlechtem Gewissen. Heute streamen wir stattdessen. Denn das kostet wenig (oder nichts) und bietet eine nie gekannte Flexibilität. Ein spitzfindiger Mensch könnte sagen, Musik-Streaming hätte vielen tausenden Musikhörern aus der Illegalität verholfen. Und noch nie war es so einfach, Musik zu veröffentlichen. Auf vielen Streaming-Plattformen können Bands ihre Musik anbieten, ohne CD-Pressungen zu bezahlen oder sich bei 17 Plattenfirmen zu bewerben. Aber hat sich die Situation für Musiker verbessert? Tommy Newton ist besorgt:

 
Tommy Newton, Ex-Gitarrist von Victory und Kult-Producer

Ich habe eine klare Haltung zum Streaming: Es ist das Ende des Künstlers. Da verdient endgültig nur noch eine Fraktion: Die Plattenfirma. Denn die kriegen 90% der Einnahmen des Streaming-Anbieters, wenn sie eine Band unter Vertrag haben. Wenn ich den Leuten von CDs erzähle, höre ich nur noch: Wieso? Kann ich doch online hören.

Die Leute denken nicht daran, wie viel Arbeit und Geld in die Aufnahme geflossen ist. Deswegen freue ich mich über den Vinyl-Boom, davon hat der Künstler etwas.

Ich sage nicht, dass das Internet schlecht ist. Für Musikvideos ist YouTube eine tolle Sache. Und ja, über das Streaming kann der Künstler Interesse bei Veranstaltern erwecken – aber ein Fan werde ich davon nicht mehr. Verbinden wir Streaming auch noch mit Pay2Play, wird es ganz düster.


Kurz und knapp: Wie kann ich meine eigene Musik veröffentlichen?

Ob wir es wollen oder nicht – die digitalen Kanäle sind zumindest eine bequeme und oft auch schnelle Form der Veröffentlichung.

  1. Am niedrigsten ist die Schwelle vermutlich bei YouTube: Account anlegen, Track veröffentlichen. Das „Video“ ist dann oft einfach das Artwork des Albums und dann eben der Song als Tonspur. Geht sogar in HD. Ladet also keine bereits komprimierte mp3 hoch.

  2. Einen Schritt weiter geht ihr mit Bandcamp und Soundcloud. Hier habt ihr auch die Möglichkeit, Geld zu verlangen, je nach eurer Vorstellung.

  3. Andernfalls gibt es die Streaming-Dienste. Da kann aber nicht jeder einfach so etwas hochladen – ihr braucht einen sogenannten Digitalvertrieb oder „Aggregator“. Da zahlt ihr eine Grundgebühr und der Anbieter verteilt eure Musik auf die verschiedenen Plattformen. Es gibt zwar Aggregatoren wo ihr nur einen zweistelligen Betrag zahlt – achtet aber unbedingt auf die Vertragsbedingungen.

  • Ist der Vertrag jederzeit kündbar?
  • Wie hoch sind deine Erlöse, was kriegt der Aggregator?
  • Welche Musikportale bietet der Aggregator überhaupt an?

Ist Streaming also keine Lösung für gewissenhaftes Musikhören?

Das Problem mit dem Musik-Streaming für Bands bleibt, dass nur winzige Geldsummen für zigtausende Streams in die Hände der Musiker fallen. Streaming-Dienste zahlen pro Stream weniger als 0,01 Euro an die Rechteinhaber, also die Plattenfirmen. Von diesem Cent landet meistens eine einstellige Prozentzahl, manchmal auch ca. 10%, beim Künstler. Nur zur Veranschaulichung:

Das bedeutet, dass 100.000 Streams, eine für viele Bands unerreichbare Zahl, dem Künstler 100 Euro einbringen.

Davon leben? Unmöglich. Aber: Schon immer war es für Musiker schwer, allein vom Absatz ihrer Tonträger zu leben.

Tonträger und Stream haben eine unterschiedliche Funktion

Kostenlos streamen ist die kleinste Hürde, die es je für Konsumenten gab. Kleiner als der CD-Kauf, die Raubkopie, Filesharing oder das Tape-Trading und dazu oft in höherer Sound-Qualität. Ich muss mich weder strafbar machen, noch 14,99€ für eine CD ausgeben, wenn ich einen Künstler „ausprobieren“ will. Das führt dazu, dass Musiker wie der minimalistische Neo-Klassik-Pianist Nils Frahm plötzlich von 2,1 Millionen monatlichen(!) Hörern profitieren. Niemals hätten so viele Menschen 1998 eine CD von einem relativ besonderen Pianisten gehört und weiterempfohlen. Streams hören wir immer wieder, der Künstler bekommt immer wieder Geld dafür, während die CD ein einmaliger Kauf ist. Bands wie Fleetwood Mac, die bereits in der Vergangenheit viele CDs verkauft haben, werden heute gestreamt und kriegen so noch einmal Geld für ihre alten Songs.

 
Nils Wittrock, Sänger und Gitarrist von The Hirsch Effekt

Ich glaube wir müssen unsere Mentalität hinterfragen. Nur weil wir für etwas nicht bezahlen, ist es nicht wertlos. Für unsere Luft zum Atmen bezahlen wir zum Glück nicht – und ich glaube, die ist wertvoll. Die Frage ist, wie Bands zumindest teilweise ihren finanziellen und zeitlichen Einsatz zurückbekommen.

Wir lösen das über die Crowdfunding-Plattform Patreon. Dort können sich Fans und Unterstützer anmelden und monatlich einen kleinen, selbstbestimmten Betrag zahlen.

Im Gegenzug machen wir regelmäßig einen Podcast, den unsere dortigen Fans und Unterstützer als Erste hören oder sehen können – das ist zwar wieder mit Kosten verbunden, die wir aber durch ein Endorsement im Rahmen halten. Das finanziert kein Leben, aber doch mehr als nur unseren Proberaum.

Verschiebung statt Entwertung: Die CD als Merchandise

Im musikalischen Underground kaufen viele Fans noch CDs, sammeln sie sogar. Ebenso Patches, Buttons, Shirts, inzwischen auch wieder Vinyl. Der Erstkontakt mit einer Band ist meistens ein Song auf einer Streaming-Plattform. Wie früher beim Tape-Trading ermöglichen es das Streaming heute, ohne großen Aufwand gleich eine Vielzahl an unterschiedlichsten Musikempfehlungen zu erhalten. Die CD, der Patch, der Button, das Vinyl oder das Ticket für den Gig kaufen Fans erst, nachdem sie die Band gehört haben. 2017 haben laut Bundesverband der Musikindustrie 3,3 Millionen Vinyl-LPs den Weg aus dem Laden in die Plattensammlung gefunden. Das ist gegenüber 2003 eine Steigerung von 1100% (keine 0 zuviel). Immerhin jeder dritte Käufer war zwischen 20 und 39 Jahre alt. Trotzdem ist die Entwicklung auch unter Musikern umstritten:

 
Tammo Reckeweg, Gitarrist und Sänger der Band LENNA

Man kann sich ja gar nicht dagegen wehren. Wenn ich mir die Abrechnung der Streaming-Plattformen angucke, kann ich schlechte Laune kriegen. Aber: Verfügbar sein, das ist wichtig. Das Live-Geschäft wird immer wichtiger, du musst halt für Geld wirklich viele Auftritte spielen.

Die CD ist Visitenkarte, Autogrammkarte, Andenken. Kein Tonträger, sondern Merchandise.

Wenn wir nach Konzerten noch CDs in der Location verkaufen, kann ich den Leuten in die Augen sehen, mit denen quatschen. Das ist dann der Gegenpart zum anonymen Stream.


 
Sebastian Dracu, Gitarrist und Sänger

Mich nervt es, dass jetzt wieder was Neues kommt. Man hat sich als Musiker gerade erst umgestellt. Was soll ich noch alles finanzieren? „Oh, du bist nicht auf dieser und jener Plattform? Oh, du machst kein Vinyl?“ Es nervt! Bei mir hat es bisher mit CDs am besten geklappt. Ich finde es nach wie vor gut, dass es ein physisches Endprodukt gibt.

Musik veröffentlichen in der Digitalen Zeit: Wie Bands das Streaming sinnvoll für sich einsetzen können

Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dass Bands in Zukunft davon leben, aufzutreten, Merchandise zu verkaufen und Plattformen wie Patreon zu nutzen. Wäre es schlimm, wenn Bands dadurch wieder coole, hochwertige CD- und Vinyl-Designs mit echtem Booklet umsetzen und Bandshirts drucken, die wir wirklich gerne tragen?

Wenn ihr trotzdem vom Streaming profitieren wollt, hat Rapper Kesh ein paar Tipps, wie ihr Streaming sinnvoll nutzt.

 
Max „Kesh“ Meißner, Rapper

Wenn es irgendwie geht, veröffentlicht nicht mehrere Songs gleichzeitig auf den Plattformen. Kein ganzes Album, keine ganze EP. Haut die Songs einzeln raus, mit zwei Wochen Abstand. Bewerbt den jeweiligen Song zwei Wochen auf Social Media. Feiert eure einzelnen Tracks. Dann hast du dein ganzes Pulver nicht mit einer Veröffentlichung verschossen. Denn die Realität ist: Wir hören heute meistens Playlists. Wenn ihr die Songs einzeln raushaut, nehmen sie vielleicht die richtigen Leute in ihre Playlist auf. Sucht euch außerdem einen Plattform-Vertrieb, der faire Konditionen bietet. Gut ist ein Tarif, in dem ihr einmal im Jahr zahlt und dann so viel hochladen könnt, wie ihr wollt.

Letztlich bleibt nur eine ganz rationale Überlegung: Ob wir als Künstler das Streaming gut oder schlecht finden, ist eine Frage der Perspektive und Mentalität. Wichtig ist, dass Künstler überhaupt darüber nachdenken – und dann eine Lösung finden, die sich richtig anfühlt. Wer als Künstler viel Wert auf ein anfassbares Medium legt, sollte das nicht links liegen lassen – denn dann fließt oft viel Liebe zum Beispiel in die Gestaltung des Covers oder Artworks. Andererseits muss kein Künstler am Vinyl festhalten, nur weil es gerade in einigen Nischen wieder „in“ ist. Streaming bleibt eine Frage der Einstellung und wer das in Schwarz und Weiß betrachtet, macht es sich ein wenig zu bequem.

Fotos © shaiith | Adobe Stock